Geschichtlicher Hintergrund des Projektes

Im Sommer und Herbst 2021 wird der Verein Tracing Spaces in Ausstellungen im Museum Nordwestbahnhof, über Interventionen und Veranstaltungen im öffentlichen Raum des Bahnhofsgeländes und einer Publikation einen Programm-Schwerpunkt zu den Jahren 1924 bis 1945 anbieten: jenen Jahren, nachdem der zivile Personenverkehr am Nordwestbahnhof offiziell eingestellt und die Halle für Zwischennutzungen freigegeben wurde:

Die Nationalsozialisten hatten bereits 1933, noch vor dem Verbot der Partei, um die Nutzung der Halle für Propagandaveranstaltungen angesucht – und sie nutzten diese dann tatsächlich sofort nach dem Anschluss 1938 für die Propagandareden ihrer „Führer“. Die Deutsche Wehrmacht reaktivierte den Bahnhof für militärische Zwecke, baute 1942 sogar eine Abzweigung der Bahntrasse für den Transport von Baumaterial für die Flaktürme im Augarten, die unter maßgeblicher Beteiligung von Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiter*innen gebaut wurden, für die wiederum Lager in der unmittelbaren Umgebung der Nordwestbahnstraße eingerichtet wurden.

Auch für das Schicksal der jüdischen Bevölkerung Wiens ist der Nordwestbahnhof von Bedeutung: Diese wird vorrangig mit dem Wiener Nordbahnhof (als Ankunftsort der Immigration) in Verbindung gebracht oder mit dem Aspangbahnhof (als Ort der Deportation). Auch der Nordwestbahnhof war Ankunftsort von jüdischen Immigrant*innen aus Nordböhmen. Doch dramatischer – auf geradezu groteske Weise – ist die jüdische Geschichte auf diesem Bahnhof durch zwei kulturelle Produktionen markiert: 1924 als Drehort der (damals noch fiktiven) Deportation der Wiener Juden im “Film Stadt ohne Juden” und 1938 als Ausstellungsort der antisemitischen Propaganda-Ausstellung “Der ewige Jude“– die vorsätzlich inmitten der zwei Bezirke mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil abgehalten wurde.

Zur räumlichen Überlagerung dieser zwei Ereignisse werden wir im Sommer 2020 mit Mitteln aus dem Kunst im Öffentlichen Raum Wien vor Ort eine (vorerst temporäre) Installation erreichten. Als Ergänzung soll die Ausstellung um eine Geschichtswerkstatt zum Themenschwerpunkt erweitert, Führungen angeboten, sowie ein Symposium vor Ort abgehalten werden, in dessen Folge auch eine Publikation erscheinen wird.

Weniger bekannt ist der Nordwestbahnhof als Tatort des wiederholten aber vergleichsweise unauffälligen Raubes von jüdischen Gütern durch NS-Kollaborateure, die sich in den Lagerhallen des Güterbahnhofs bedienten, in denen 1938 Hausrat und Güter von jüdischen Familien eingelagert wurde, die zur Auswanderung gezwungen wurden. Quellen weisen darauf hin, dass hier auch Raubgut gelagert und verladen wurde, zumindest waren namhafte Unternehmen, die auf diesem Bahnhof Niederlassungen hatten, nachweislich in den Transport von Raubgut verwickelt. Viele dieser Speditionen hatten zuvor noch jüdische Besitzer, Teilhaber oder leitende Angestellte, die selbst den Arisierungen zum Opfer fielen. Der Anteil an leitenden Mitarbeitern jüdischer Herkunft war in den Speditionen überdurchschnittlich hoch, stammten diese doch selbst aus genau den Regionen, die nun mit den neuen Eisenbahnlinien an die Hauptstadt angebunden wurden. Sie hatten daher die kulturelle und sprachliche Kompetenz, die Transporte von dort nach Wien und umgekehrt zu koordinieren. Schenker & Co., 1872 in Wien gegründet und eine der bedeutendsten Speditionen, hatte jüdische Teilhaber und viele jüdische Angestellte, bevor sie in die Deutsche Reichsbahn aufging und zum Raubgutexperten aufstieg. Bäuml & Söhne (heute Kunsttrans) war im Besitz jüdischer Eigentümer, bevor sie arisiert wurde, der Hausrat der Familie Freud wurde in diesem Fall aber von den Nutznießern der Arisierung doch noch rechtzeitig nach England transportiert.

 

Literatur / Quellen:

Wolfgang Benz: „Der ewige Jude“ – Metaphern und Methoden nationalsozialistischer Propaganda. München: Metropol Verlag 2010. Eine kurze Zusammenfassung des Autor findet sich auch in der DAVID – Jüdischen Kulturzeitschrift, 88 (4) 2011.

Rosemarie Burgstaller: Der Ewige Jude (Ausstellung, 1937),  in: Historisches Lexikon Bayerns, veröffentlicht am 30.7.2020.

Rosemarie Burgstaller: Verhöhnung als inszeniertes Spektakel im Nationalsozialismus: Die Propaganda-Ausstellung „Der ewige Jude“, in: Lucile Dreidemy, Richard Hufschmied, Florian Wenninger u. a. (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte. Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Bd. 1, Wien/Köln/Weimar, Böhlau Verlag 2015, 346–356.

Rosemarie Burgstaller: Inszenierung des Hasses. Feindbildausstellungen im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main/New York: Campus 2021.

Andreas Brunner, Barbara Staudinger, Hannes Sulzenbacher (Hg.): Die Stadt ohne. Katalog der gleichnamigen Ausstellung. Wien: verlag filmarchiv austria 2018. Eine gr0ßartige mit Archiv-Bildern und Filmausschnitten angereicherte Darstellung des Konzeptes dieser Ausstellung findet auf der Webpage des Filmarchiv Austria.

Traude Kogoj (Hg.): Verdrängte Jahre. Bahn und Nationalsozialismus in Österreich 1938 – 1945, Katalog der gleichnamigen Ausstellung, kuratiert von Mimi Segal im Auftrag der ÖBB, Wien 2012. Siehe dazu: DAVID – Jüdische Kulturzeitschrift, 113 (6) 2017.